Monday, September 18, 2006

Österreichisches Literaturarchiv wurde 10

Das Österreichische Literaturarchiv an der österreichischen Nationalbibliothek feierte am Donnerstag sein zehnjähriges Bestehen mit einem Symposion, das drei spannende Podiumsdiskussionen zu den Themen Kanonbildung, wissenschaftliche Aufarbeitung und Erwerbsstrategien umfasste. Hier einige Häppchen, die ich mir dabei notiert habe:

Kanonbildung
  • Konstanze Fliedl meinte, dass Kanonfragen zunehmend nach finanzieller Machbarkeit und weniger nach inhaltlicher Bedeutung entschieden werden müssten; ihren DissertantInnen müsse sie Themen vorschlagen, die sie einfach und ohne großen finanziellen Aufwand bewältigen könnten.
  • Ulrich Raulff sprach von einer "urwüchsigen" Kanonisierung durch die Preise auf dem Autographenmarkt, wo Dokumente von "Weltnamen" als Spekulations- bzw. Anlageobjekte gehandelt würden, und durch den Kalender, wo "Schutzpatrone" für ganze Jahre andere im Dunkeln versinken lassen würden. Für Drittmittel brauche man große Namen, aber Archive müssten auch Halbberühmte und Vergessene sammeln.
  • Wendelin Schmidt-Dengler meinte mit einem Augenzwinkern, dass die Betonung des Sammelns der Breite auch einen gewissen Trost darstelle, wenn man die großen Namen nicht bekomme. Es gebe in Österreich zweitausend offiziell akkreditierte SchriftstellerInnen - wenn da jede/r zwanzigtausend Blatt hinterlassen würde, hätte man vierzig Millionen Blatt und müsste die gesamte österreichische Bevölkerung zu ArchivarInnen umschulen. Der Kanon beginne zunehmend ins Kapitale umzuschlagen - wenn Schriftsteller A für seinen Vorlass Summe x bekam, verlange Schriftsteller B garantiert die Summe 2x.
  • Irmgard Wirtz Eybl berichtete über spezielle Probleme der Kanonisierung schweizerischer Literatur angesichts der Viersprachigkeit.
  • Außerdem wurde - angesichts der Umbenennungen in "Deutsche Nationalbibliothek" und "Schweizerische Nationalbibliothek" - über den Begriff des Nationalen diskutiert. Wendelin Schmidt-Dengler plädierte dafür, den Begriff zu verwenden, solange es keinen besseren gebe, denn das bringe mit sich, dass der Staat sich nicht aus der Verantwortung ziehen könne für das kulturelle Erbe, das innerhalb seiner Grenzen geschrieben wurde. Konstanze Fliedl ergänzte, dass die Inhalte eines Literaturarchivs ja subversiv den Begriff des Nationalen unterlaufen würden.
  • Bernhard Fetz brachte die Edition als Möglichkeit zur Kanonisierung zur Sprache und erwähnte die Albert Drach-Ausgabe, mit der der österreichische Autor wieder in den Kanon der deutschen Literatur "eingebaut" werden soll.

  • wissenschaftliche Auswertung
  • Der Schriftsteller Josef Haslinger hat einen Teil seines Vorlasses dem Literaturarchiv verkauft und berichtete darüber mit gemischten Gefühlen: Er habe manchmal den Eindruck, seinen Kindern etwas entzogen zu haben, was sie später selbst verkaufen hätten können. Ein schlechter Roman, den er 1981 geschrieben und dessen Überarbeitung er mittlerweile endgültig aufgegeben habe, scheine nun in einem öffentlichen System auf - im Nachhinein gesehen hätte er die Unterlagen vor der Übergabe durchsehen sollen. Er habe aber dem Archiv nichts vorenthalten, denn seine vollkommene Demontage sei ihm wesentlich lieber als eine, die zitzerlweise über Jahrzehnte erfolgen würde.
  • Johann Holzner hob hervor, dass im Archiv ja nicht nur demontiert, sondern auch Texte, die zu Unrecht im Dunkeln schlummern, hervorgehoben würden.
  • Klaus Amann berichtete, während seines Studiums in den 70ern kein einziges Mal auf die Existenz eines Literaturarchivs und die Möglichkeit, dort wissenschaftlich zu arbeiten, hingewiesen worden zu sein. Er gab die existentielle Situation der Studierenden zu bedenken - diese müssten meist schnell fertig werden, die Archivarbeit sei aber eine intensivere und ungewissere Form des Arbeitens.
  • Daniela Strigl regte an, die Öffentlichkeit auf den unzulänglichen Umgang mancher ErbInnen mit Archivgut aufmerksam zu machen. - Klaus Kastberger sprach in diesem Zusammenhang von der "Psychopathologie des literarischen Erbens".
  • Josef Haslinger berichtete, sein Privatleben, das sich rund um den PC entwickelte, auch für das Archiv abzuspeichern - zum Beispiel eMail-Korrespondenz, iTunes-Dateien, Filme, digitale Photos -, was Daniela Strigl dazu veranlasste, vom "gläsernen Autor" zu sprechen.
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